Selbstmitgefühl

Das Kultivieren des Selbstmitgefühls ist uns nicht in die Wiege gelegt worden. Wieso glauben wir, dass wir zu uns selbst besonders hart und kritisch sein müssten und eine  liebevolle und mitfühlende Haltung nur den anderen zusteht?  

Ein kleines Beispiel für eine liebevolle Haltung zu uns selbst...

  • Stelle dir vor, dass du in einer Wohngemeinschaft wohnst und gerade ein Zimmer frei geworden ist. Es gibt unterschiedliche neue Anwärter, die unbedingt mit dir zusammenleben wollen. Welchen wählst du?

Mitbewohner 1

Er weiß es einfach immer besser... Wenn dir ein Missgeschick unterläuft, ist er mit Kritik sofort zur Stelle und sagt dir, dass du selbst dran doof bist. In seinen Augen bist du einfach nie gut genug und wenn du dich mal ausruhst, beäugt er dich missbilligend. In seiner Nähe hast du ständig das Gefühl nicht zu genügen und seine Gegenwart raubt dir Energie, hinterlässt einen fahlen Beigeschmack und du fühlst, dass dein Selbstwert sinkt. Dich abzugrenzen oder deine Bedürfnisse zu artikulieren fällt dir schwer.

Mitbewohner 2

Stets an deiner Seite... Wenn dir etwas misslingt, hört er dir mitfühlend zu und baut dich wieder auf. In seiner Nähe fühlst du dich verstanden, ernst genommen und gewollt. Durch seine wohlwollende Art baut er dich immer wieder auf, dich nicht unterkriegen zu lassen und einen neuen Anlauf für deine Herausforderungen zu wagen. Er zeigt dir deine Stärken und durch seine Präsenz fühlst du dich stark,  gewollt und bist dir bewusst, dass dein Bestes gut genug ist. Du kannst Grenzen setzen und bist überzeugt, dass es legitim ist Bedürfnisse zu haben und diese ernst zu nehmen. 

Genau, Mitbewohner 2 ist die Antwort!

Was bedeutet Selbstmitgefühl und wie kann es unseren turbulenten Alltag bereichern? 

Gerade in unseren Industrieländern wird der Ruf immer lauter darauf zu schauen, wie wir anders mit dem gesellschaftlichen Druck sowie mit unserem "inneren Kritiker/in" und "Perfektionisten" auf der persönlichen Ebene umgehen können, um ein Leben zu führen, welches mehr in Einklang mit uns selbst, unseren Familienmitgliedern und der gesamten Gesellschaft ist.

Aktuelle Forschungen zeigen auf, dass Selbstmitgefühl ein zentraler Schlüssel sein kann, um mehr Raum für die eigenen Prozesse im Alltag zu gewinnen. Selbstmitgefühl ist ein essenzieller Bestandteil der Selbstfürsorge. Sie geht weit über die verbreitete Meinung hinaus, dass „ein wenig me-time“ zum eigenen Ressourcenaufbau ausreicht. 

Selbstmitgefühl ist die Beziehung, die wir zu uns selbst eingehen, mit unserer Haltung, unseren Werten und vor allem in Zeiten, die uns sehr herausfordern. Ein gesunder und mitfühlender Umgang mit den eigenen Stärken und Schwächen fördert unsere Resilienz und ermöglicht es uns unseren Kindern und anderen Menschen achtsamer zu begegnen. Diese Wertschätzung, die Selbstmitgefühl in die persönlichen Prozesse einbringt, ist für viele eine neue Herangehensweise und es bedarf Übung und Ideen, um für sich eigene Wege zu entdecken und zu gehen.

Kristin Neff (Professorin für Psychologie) hat intensiv zum Thema Selbstmitgefühl geforscht und herausgefunden, dass eine mitfühlende innere Stimme, die unsere Wegbegleiterin wird, uns dabei unterstützen kann,  einen besseren Umgang mit Schwierigkeiten und mit uns selbst zu entwickeln. Wir begegnen uns selbst  sanfter, anstatt uns ständig für jedes Missgeschick zu verurteilen.  

Das Beeindruckende am Selbstmitgefühl ist, dass selbst, wenn wir in unserem bisherigen Leben zu wenig dieser positiven Unterstützung erfahren haben, wir sie nachträglich in uns wachsen lassen können. Durch das Kultivieren des Selbstmitgefühls werden wir nicht nur mitfühlender uns selbst sondern auch den Menschen um uns herum gegenüber. 

Wie begegnest du dir, wenn etwas nicht so läuft wie du es dir wünscht?
Freundlich und verständnisvoll? Blickst du auf das was du kannst?
Oder kennst du eher solche verletzenden Gedanken:

  • Stell dich nicht so an
  • Du musst dich einfach mehr anstrengen
  • Du musst durchhalten
  • Die anderen schaffen es und du nicht
  • Du bist zu schwach, zu unfähig etc. 

Was uns Selbstmitgefühl ermöglicht

nach: Mangold, J., Wir Menschen sind auch nur Eltern, Arbor Verlag 2018

  • Besser mit Schwierigkeiten umgehen
  • Mehr Fürsorge und Mitgefühl für andere 
  • Auf Positivem aufzubauen, zu erkennen was schon gut läuft und den inneren Entwicklungsraum zu erforschen.
  • Bereit Verantwortung zu übernehmen
  • Weniger Versagensängste, mehr Bereitschaft, sich nach einem Misserfolg erneut zu bemühen
  • Eine schnellere Perspektivübernahme wird möglich



"Wir praktizieren Selbstmitgefühl nicht, damit es uns besser geht, sondern weil es uns immer wieder schlecht gehen wird" 
Christopher Germer